Saison 21|22 ›NACHBARN‹

Liebes Publikum, liebe Freunde des MKO,

 

das letzte Jahr hat uns verändert: Unser Denken und Fühlen, unsere Arbeitswelt, auch unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Zu kontrovers waren die Diskurse, zu einschneidend die Veränderungen, zu unterschiedlich die Auswirkungen auf unseren Alltag. So sehr wir uns an eine gewisse Distanz zu unseren Mitmenschen gewöhnt haben, so unter- schiedlich blicken wir nun auf Zusammenkünfte vieler Menschen. Manche eher mit Vorsicht, gar Argwohn, manche mit großem Nähebedürfnis und neuer Leichtigkeit.

Wir haben uns entschlossen, einen zweiten Blick auf das Thema ›Nachbarn‹ zu werfen – nicht nur, um einige wichtige Aufführungen, die durch die Pandemie verhindert wurden, nachholen zu können. Sondern auch, weil unsere Sicht- weise auf unsere nächste Umgebung, in der wir notgedrungen so viel Zeit verbrachten, eine andere geworden ist. Und weil eine so einschneidende weltweite Krise, wie sie die meisten von uns wohl noch nie erlebt haben, auch eine neue Sicht auf ein Thema, auf unser Selbstverständnis als Kultur- träger und auf die vielbemühte ›Relevanz‹ unseres Tuns erlaubt – oder besser, verlangt. Als wir anfingen, uns mit dem Begriff ›Nachbarn‹ und passender Musik dazu zu beschäftigen, war an die Pandemie noch nicht zu denken. Viele Pro- gramme haben sich völlig verändert, manche Werke haben eine zuvor ungeahnte Aktualität oder Bedeutung gewonnen.

Vieles wird man jetzt anders wahrnehmen, mit anderen Assoziationen verbinden als noch vor zwei Jahren.

Für unser Abonnementkonzert im Juni 2021 schrieb uns die litauische Komponistin Juste ̇ Janulyte ̇ das Stück ›Apnea‹, dem ein Zitat aus Rainer Maria Rilkes ›Duineser Elegien‹ vorangestellt ist: ›Hier ist alles Abstand, und dort wars Atem‹. Rilkes Elegien sind – vielleicht neben T.S. Eliots ›The Waste Land‹ und James Joyce‘ ›Ulysses‹ – einer der Schlüsseltexte für die Krise des modernen Individuums am Beginn des 20. Jahrhunderts, für die Abspaltung von der (bei Rilke als ›Idealzustand‹ positiv konnotierten) Natur, für unser gespaltenes Verhältnis zu Aufklärung, Zivilisation, zur Erinnerung und auch zum Tod. Alles Themen, die im Zuge der Pandemie 100 Jahre später aufs Neue – und in all ihrer Widersprüchlichkeit – wieder zentral in unser Bewusstsein drängen. Themen, die für unsere Suche nach sozialer Identität stehen, aber auch für die Anfälligkeit gegenüber populistischen Antworten und die Frage, ob sich das, was wir aus der Geschichte vermeintlich gelernt haben, wirklich als dauerhaft erweist. Auch deshalb finden wir es wichtig, Verbindungen zwischen den Epochen aufzuzeigen, über Grenzen hinweg, durch Wände hindurch, bewusste und unbewusste Nachbarschaften aufzuspüren und hörbar zu machen! Paradigmatisch dafür mag Fabio Nieder sein, der Wandler zwischen geopgraphischen wie musikalischen Welten, dessen wunderbares neues Werk ›Vielleicht weiß es die Nachtigall‹ über ein slowakisches Volkslied wir aufführen und der aus Triest stammt, dem Ort, an dem Rilke seine ›Duineser Elegien‹ schrieb.

Musik als soziales Element, als etwas Gemeinschaft-Stiftendes, wird zuallererst in der Volksmusik jedweder Art evident: Sie begegnet uns in verschiedensten Gewändern, vom Ländler (Rihm) und Shanty (Adès) bis hin zu eher musikantisch-assoziativen Elementen bei Britten oder Schubert. Wenn die kristallinen Tongebilde des Dänen Hans Abrahamsen auf die phantasievoll-ungekünstelte Klangsprache der auf Gotland lebenden Komponistin Lisa Streich treffen, mag man an den von Rilke beschworenen Urzustand zurückdenken.

Eine thematisch wie inhaltlich ›benachbarte‹ Verbindungslinie führt uns von W.A. Mozart über Béla Bartók bis zu Bruno Maderna: Es ist die Verwendung sogenannter ›Nachtmusiken‹, früher als ›Serenaden‹ bezeichnet. Die Nacht steht für die Isolation der Finsternis, die nächtliche Serenade hinge- gen für ein gesellschaftliches Zeremoniell der Annäherung. Während Mozarts ›Haffner‹-Serenade bzw. seine daraus herausgelöste Symphonie deutlich in dieser Tradition steht, interessieren Bartók vor allem die emotionalen Zustände der Nacht: Mal aufwühlend-düster, mal sanft-beruhigend evozieren seine flirrenden Klänge Naturbilder oder Alp- träume. Auch Bruno Madernas Serenata No. 6, für eine ganz ähnliche Besetzung wie Bartóks ›Musik für Saiteninstrumente‹ geschrieben, spielt eher mit assoziativen Bildern und weist doch mit ihrem langen Geigensolo auf den Ursprung vieler Serenaden hin: Das Ständchen unterm Balkon der Geliebten. Dass die Dunkelheit sich aber auch mit den Trugbildern der Liebe verbündet und in die Untiefen der Selbstfindung führt, wird deutlich, wenn Alexander von Zemlinskys ›Waldgespräch‹ im Konzertmeister-Abonnement neben dem 2. Streichquartett seines Schülers Arnold Schönberg erklingt. In diesem Schlüsselwerk, das für die Musik inhaltlich wie formal eine ähnliche Bedeutung hat wie Rilke, Joyce und Eliot für die Literatur, finden wir die oben schon erwähnte Identitätskrise im Volkslied-Zitat (›O du lieber Augustin, alles ist hin‹) ebenso wieder wie den Atem, hier utopisch geweitet zum ›Vergessen aller Sorgen des Erdenlebens‹ (Schönberg) in dem berühmten George-Vers ›Ich fühle Luft von anderen Planeten‹.

MKO im Prinzregententheater © Florian Ganslmeier
MKO im Prinzregententheater © Florian Ganslmeier

Ein Blick auf die historischen Nachbarn der großen ›Klassiker‹ Mozart und Beethoven birgt immer wieder Überraschungen: Joseph Martin Kraus wirkte größtenteils in Schweden und entwickelte dort eine sehr persönliche und expressive Klangsprache; Anton Eberl dagegen war Mozarts Schüler und galt zeitweise sogar als ›ernstzunehmender Rivale‹ Beethovens in Wien. Man merkt Eberls seit über 200 Jahren nicht mehr erklungener Ouvertüre, mit der wir unsere Saison eröffnen, die Nähe zu Mozart durchaus an: Die Welt der Zauberoper oder der Exotismus einer ›Entführung aus dem Serail‹ wird auch in seiner damals hoch geschätzten Ouvertüre zur Oper ›Die Königin der schwarzen Inseln‹ hörbar.

Nachtmusik der Moderne credit © Florian Ganslmeier
Nachtmusik der Moderne credit © Florian Ganslmeier

Versäumtes nachzuholen und in einen neuen Kontext zu stellen, war eine ebenso schöne Aufgabe, wie es schwer war, Nicht-Erklungenes in diesem Jahr loszulassen. Márton Illés Violinkonzert mit Patricia Kopatchinskaja zum Beispiel muss vorerst weiter auf unsere erste Aufführung warten – eine CD-Aufnahme ist immerhin geplant. Viele spannende Projekte, die wir kammermusikalisch oder in schlanker Orchesterbesetzung im letzten Jahr realisiert haben, konnten und können Sie auf unseren Medienkanälen anhören; die Fotos in diesem Heft geben einen kleinen Vorgeschmack.

Nicht los ließ uns der Wille, die Musik der ehemaligen DDR für uns zu entdecken: Wir haben daher eine CD mit Werken der beiden einander freundschaftlich verbundenen Kollegen Georg Katzer und Friedrich Goldmann aufgenommen. Goldmanns 1985 entstandenes ›Ensemblekonzert II‹ stellen wir im 2. Abonnementkonzert in einen Zusammenhang
mit Frank Martins ›Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‹, einem eindringlichen Appell gegen den Krieg, komponiert während des 2. Weltkriegs, dem die Tren- nung der beiden deutschen Staaten folgte.

 

Wir freuen uns auf eine wunderbare Riege alter und neuer Freunde des MKO: Vilde Frang, Sharon Kam, Pekka Kuusisto, Carolin Widmann, François Leleux und Steven Isserlis sind neben den Sängerinnen Gerhild Romberger, Christina Landshamer und Sarah Maria Sun unsere Gäste in den Abonnementkonzerten. Enrico Onofri und Jonathan Stockhammer sind erstmals in der Abonnementreihe zu Gast. In der ›Nachtmusik‹ in der Pinakothek der Moderne widmen wir uns zum zweiten Mal der nun 90-jährigen großen Komponistin Sofia Gubaidulina, dem viel zu früh verstorbenen Italiener Fausto Romitelli sowie dem Komponisten und Gitarristen der Rockband ›The National‹ Bryce Dessner. Für Kinder und Familien gibt es in diesem Jahr gleich zwei große Konzerte: Einmal im Prinz- regententheater zusammen mit Checker Tobi, bekannt aus ARD und KiKa, sowie in der neuen Isarphilharmonie im Gasteig HP8 in Sendling mit dem uns seit langem verbundenen Percussion-Duo ›Double Drums‹. Unseren Einstand in der Isarphilharmonie feiern wir zusammen mit der Jazzrausch Bigband. Auch mit verschiedenen Aktivitäten wird das MKO im Rahmen der Kulturvermittlung im Gasteig HP8 vertreten sein.

Vieles hat dieses stille Jahr uns genommen, vieles uns gelehrt und wir blicken neu und voller Neugier auf die Dinge, die wir früher als selbstverständlich nahmen: Das könnte die Chance der Kultur sein! Ein frischer Blick könnte dies sein! Und wir spüren deutlich die Sehnsucht, wohin wir auch blicken: Nach Vertiefung, nach Unterhaltung, nach Erleuchtung und nach Zerstreuung. Natürlich haben wir auch gelernt, dass all das – und vor allem die vermeintliche Normalität – so gefestigt nicht ist, wie wir immer dachten. Dass es auch hier, nicht nur in den sogenannten ›Krisengebieten‹, Situationen gibt, de- nen wir mit all unserer Flexibilität, unserer Empathie und Liebe zur Musik nur mit einer gewissen Demut gegenübertreten können. Aber dennoch: Lassen Sie uns gemeinsam und zuversichtlich aufbrechen in diese ›neue Normalität‹ – als ›Nachbarn‹, mit Antennen füreinander und ganz unverstelltem Blick auf die Kunst!

 

Herzlichst,

Clemens Schuldt, Florian Ganslmeier
für das Künstlerische Gremium des MKO

Chefdirigent Clemens Schuldt © Florian Ganslmeier
Chefdirigent Clemens Schuldt © Florian Ganslmeier
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